Kategorie: Tragik
Herbst, 2011
„Er ist so ein netter Junge!“ - „Höflichkeit in Person!“ -
„So unbesorgt und glücklich!“ - „Der Traum von einem Kind!“
Diese und weitere Worte der Bewunderung bekam Liam, ein neunjähriger,
blondhaariger und lebenslustiger Junge, fast jeden Tag zu hören.
Sein Vater, Schuldirektor und Lehrer für Naturwissenschaften,
beglückte das sehr und ließ keine Gelegenheit aus seinen Sohn
vorzuführen.
Oft spielte Liam mit seinen Freunden und man hörte ihn nur lachen.
Gelangweilt oder gar traurig sah man den Jungen nie. Immer erfreute
er jedermann mit seinem Späßen, Witzen und dem süßen Kinderlachen
und den funkelnden blauen Augen, aus denen die pure Gutmütigkeit
blickte. Denn immer dort wo Hilfe benötigt wurde, war der Junge zur
Stelle. Ob er nun mit seelischem Beistand oder mit körperlicher
Arbeit half, letztendlich war jeder froh auf seine Hilfe zählen zu
können. Falls er mal Unsinn anstellte, hatte er eine Art sich zu
entschuldigen, die einem sofort jeden Groll vergessen ließ und ein
flüchtiges Lächeln über die Lippen zauberte. Und doch war er nur
ein Kind. Die Familie hatte einen außerordentlich schweren Verlust
erleiden müssen. Seine Mutter starb früh und man vermutet keinen
natürlichen Tod. Allerdings konnte man nie etwas nachweisen. Liam
selbst war gerade mal sieben Jahre alt, als seine Mutter starb und
bis heute hat er auch keine richtige Erinnerung daran, weshalb man
vermutet, dass er es vielleicht verdrängt hatte. Im Haus hingen auch
keine Bilder von ihr und der Junge vermied es zu fragen, um den
Vater, der sehr unter dem Tod seiner Frau litt, nicht traurig zu
machen.
Eines Tages - es war einer der Tage, an denen Liam besonders gut
gelaunt war - lief der Junge durch das ganze Haus. Selbstverständlich
war er dabei ganz ruhig, wie eine Maus. Er wollte seinen schlafenden
Vater nicht wecken, da dieser sich von einer stressigen Arbeitswoche
erholen musste. So lief und kroch er im ganzen Haus herum, so tuend,
als ob er ein Schatzsucher wäre.
Nachdem er die Treppe heruntergeklettert war, befand er sich in dem
großen Hausflur. Vorsichtig hüpfte er von 'Stein zu Stein', um
nicht in die glühende Lava zu fallen, die im tiefen Abgrund
brodelte. Endlich! Er war auf dem Teppich angekommen, den er sich als
ein großes Plateau vorstellte. Der mutige Abenteurer war am Ziel.
Irgendwo hier war der großartige Schatz auf seiner
selbstgezeichneten Karte versteckt. Sofort fiel sein Blick auf die
Skulptur einer griechischen Göttin. Sein Vater liebte solche
Skulpturen. Liam liebte seinen Vater. Er brauchte diese Statue. Sein
Vater wird sich bestimmt darüber freuen. Aufgeregt rannte er los,
doch sein Fuß stieß gegen eine Delle im Teppich, sodass er stürzte.
Er wartete. War er zu laut gewesen? Sein Knie schmerzte etwas. 'Ein
Abenteurer kennt keinen Schmerz', dachte er sich der tapfere Liam und
raffte sich auf. Er erhob sich, rückte seine Kleidung zurecht, sah
sich um und erstaunte.
Der Teppich war verschoben und darunter kam eine versteckte Falltür
zum Vorschein. Zwar wunderte Liam sich, was diese Tür da suchte,
doch tat er so, als gehörte dies zum Abenteuer. Mit
stolzgeschwellter Brust ging er zur Falltür und kniete nieder.
Sofort entdeckte er die Schlaufe und zog daran. Langsam öffnete er
die Klappe und leise legte er sie auf der anderen Seite ab. Mit
großen Augen betrachtete er, was unter der Falltür zum Vorschein
kam.
Eine kleine Kiste befand sich in einer ebenso kleinen Lücke im
Boden. Liam hielt sich die Hände an die Wangen und ließ ein
'Erstaunlich!' verlauten. Das hatte er nicht erwartet. War dies
wirklich eine Schatzkiste? Aber was hatte sie bei ihm Zuhause unter
einem Teppich zu suchen? Viele weitere Fragen gingen ihm noch durch
den Kopf, doch die wichtigste war, was wohl drin sein mag.
Behutsam nahm er die Schachtel heraus, als ob sie leicht zerbrechlich
wäre und pustete den Staub von der Oberseite weg. Eine kleine Spinne
krabbelte auf Liams Hand. Ihr nichts böse wollend, ließ er sie
runter und sie eilte davon. Nun entdeckte er ins Holz eingeritzte
Buchstaben. Es sah so aus, als hätte jemand wild mit einem Messer
die Striche in das Holz gekratzt.
Plötzlich schreckte der kleine Junge auf. Er konnte ganz genau
seinen Namen als erstes Wort identifizieren. Er kniff die Augen zu
schmalen Schlitzen zusammen und versuchte konzentriert das zweite
Wort zu entziffern. Ein E... Darauf vielleicht ein R? Ja, und gleich
danach ein I! Der Buchstabe N erschien direkt zweimal hintereinander.
Anschließend wieder eine Kombination aus E und R. Der darauffolgende
Bogen war ganz klar ein U. N und G beendeten das Wort.
„Liams Erinnerung“, las er schließlich beeindruckt. Der Junge
spürte plötzlich eine eisige Kälte in ihm. Was hatte das zu
bedeuten? Es fühlte sich so an, als wäre etwas in dieser Kiste, das
ihm Angst machte, aber auf der anderen Seite ihn so anzog, dass er
sie öffnen musste.
Seine zittrigen Finger versuchten die Klappe anzuheben, doch die
kleine Kiste ließ sich nicht öffnen. Liam erkannte auch sofort
warum. Ein Schlüsselloch verweigerte den Jungen das Öffnen.
Eine Weile verharrte sein Blick auf dem Wächter der Truhe, als auf
einmal die Kälte in ihm stärker wurde und gleichzeitig unbekannte
Wut in ihm auf brodelte. Er nahm die Kiste und schlug sie immer
wieder auf den Boden. Gierig nach dem Inhalt, gequält von der Angst,
geleitet von der Wut. Trotz der wilden Versuche, die Kiste zu
zerstören, blieb sie unbeschadet.
„Liam!“, drang eine wütende Stimme an des Jungen Ohr. Sofort war
die Kälte und Wut in Liam verschwunden. Was sollte er nun tun? Er
hörte Schritte, die von oben kamen. Sein Vater musste jeden
Augenblick hier sein!
Er warf die Kiste in ihr Loch zurück, klappte die kleine Tür zu,
zog den Teppich über das Versteck und kontrollierte nochmal alles.
Da kam ihm plötzlich ein Gedanke. Was ist, wenn sein Vater fragte,
was das für Geräusche waren? Er war ein grauenvoller Lügner. Seine
Blicke wanderten im Flur herum und dann tat er etwas, dass er nie von
sich erwartet hätte.
Ein lautes Scheppern war Ursache dafür, dass die Schritte des Vaters
sich beschleunigten. Sofort war er die Treppe herunter gerannt und
fand im großen Flur Liam vor, der sich weinend über die Scherben
der antiken Frauenskulptur beugte.
Vor Wut errötet, hob der Vater den Finger und setzte zu schimpfenden
Wörtern an. Doch Liam blickte seinen Vater an. In seinen blauen
Augen glitzerte die kindliche Unschuld, die den Vater weich werden
ließ.
Wenig später war der Vater dabei, die Scherben aufzufegen. Liam,
immer noch leise schluchzend, schaute ihm zu. Tiefe Schuld packte den
Jungen, wegen seiner absichtlichen Tat. Ehe er aber weitere
Schuldgefühle entwickeln konnte, fing sein Blick ein besonderer
Gegenstand. Als sein Vater sich vorbeugte, rutschte eine Kette aus
dem T-Shirt. An dieser Kette war ein Schlüssel, angeblich ein
Andenken an Liams Mutter. Da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.
Sanftes Mondlicht fiel durch die Fenster, als Liam wieder im Flur
saß, die Kiste in seinen Händen. Er war die ganze Nacht wach
gewesen, stand nicht auf, ehe sein Vater im Tiefschlaf war. Langsam
war er ins Schlafzimmer geschlichen und hatte es mit einer Menge
Glück und Geschick geschafft den Schlüssel jetzt in seinen Händen
zu halten.
Nun saß er wieder am gleichen Ort, wo er gestern das Versteck
gefunden hatte. Sein Blick verharrte auf dem Schlüssel. Er
symbolisierte so vieles für ihn. Einmal ein starkes Schuldgefühl,
da er ihn gestohlen hatte, obwohl dieser dem Vater so viel bedeutete.
Er wird ihn ja zurückgeben, doch fühlt es sich so falsch an. So
etwas hatte er noch nie getan, aber es musste sein! Denn es war der
einzige Weg zum Ziel; der einzige, der den Wächter der Truhe
besiegen kann. Was wird er ihm letztendlich überbringen? Freude und
Glück, Traurigkeit und Schmerz? Wird der Schlüssel ein Freund sein
oder ist der Wächter der Truhe sein Beschützer vor Unheil?
Liam, voller Anspannung, steckte den Schlüssel ins Loch und drehte
ihn nach rechts. Klack! Die Kiste war entriegelt.
Langsam hob er den Deckel an. Das Holz war glatt und kalt. Die Truhe
war offen. Liam blickte nach vorn. Doch dann senkte er vorsichtig
seinen Blick. Ein goldenes Medaillon! Der Junge nahm es in die Hand
und plötzlich stieg in ihm wieder die Kälte auf. Zögernd wartete
er, doch dann öffnete er die Klappe des Medaillons. Da war ein Foto!
Das Foto einer schönen Frau. Ihre blonden Haare und ihre blauen
Augen kamen Liam so bekannt vor. Und plötzlich zuckte eine
Erinnerung durch seinen Kopf. Das war seine Mutter!
Glück und Wärme erfüllte ihn, doch dann passierte etwas
Merkwürdiges. Bilder erschienen vor seinen Augen. Er erinnerte sich
an Qualen und Trauer. Was war das? Er wollte schreien, es ging nicht.
Er sah seine Mutter, streitend mit seinem Vater. Worüber redeten
sie? Nein, er tut ihr weh! „Hör auf!“, wollte Liam brüllen,
aber sein Hals war zu trocken, ließ nur ein Krächzen zu. Jetzt
bewegt sich seine Mutter nicht mehr und eine letzte Träne rann über
ihr Gesicht.
Die Bilder verblassten. Liam erinnerte sich. Sein Vater nahm seiner
Mutter das Leben. Er war dabei, als er jünger war. Entschlossen
stand er auf, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und rannte in
sein Zimmer. Später hatte er einen Rucksack gepackt. Er stand im
Flur und blickte auf die geöffnete Kiste.
„Tschüss... Papa!“, sagte er mit krächzender Stimme, verließ
das Haus und floh in die Nacht.
10 Jahre später...
Liam ist nun 19Jahre alt und eifriger Student. Sein Studienfach hat
er sich sorgfältig ausgesucht, strebte es schon ziemlich früh an.
Seine Pflegeeltern taten alles, damit sie ihm dieses Studium
finanzieren konnten.
Liam war gerade auf dem Weg zur Universität. Gedankenverloren griff
er in seine Hosentasche und holte einen kleinen Schlüssel heraus.
„Heute, vor 10Jahren“, murmelte er leise. Er war damals, als ihn
die Vision ergriff, auf die Straße geflohen. Ehe er in der Nacht
erfrieren konnte, fand ihn ein junges Ehepaar, das ihn fortan
aufnahm. Es war ein schwieriger Prozess, bis sie das Sorgerecht für
Liam erhalten konnten. Doch sie schafften es letztendlich und Liam
wuchs gut bei ihnen auf. Die Erfahrung hinterließ zwar Spuren bei
ihm, doch veränderte seinen Charakter nicht schwerwiegend. Er wurde
nur nachdenklicher und ruhiger, und innerlich auch tatsächlich etwas
trauriger.
Den Schlüssel trug er jeden Tag bei sich. Er konfrontierte ihn zwar
mit seiner Vergangenheit, aber war er auch wichtig für ihn, da sich
an diesem Tag die Wahrheit offenbarte. Das Medaillon, aber, ließ er
zurück. Sein Vater sollte es behalten, um zu wissen, welch grausamen
Fehler er beging. Er sollte es tief bereuen.
Liam legte den Schlüssel in seine Brusttasche und betrat nun die
Universität. Zusammen mit zwei Freunden ging er zur nächsten
Vorlesung, die sich allgemein mit Gewaltprävention befasste.
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Nachwort:
Diese kleine Kurzgeschichte habe ich schon vor einer ganzen Weile verfasst. Ursprünglich ist sie für einen Englischwettbewerb gewesen, bei dem man eine Geschichte mit dem Thema "Key" (Englisch für Schlüssel) schreiben sollte.
Inspiriert wurde ich von der Comicgeschichte "Der Junge mit dem Herz in der Kiste" ("The boy with the heart in a box") aus Roman Dirge's "Lenore: Noogies", bei dem es sich um einen Jungen handelt, dessen Herz sich in einer verschlossenen Kiste befindet. [Achtung: Spoiler!] Sein Großvater trägt den Schlüssel zu der Kiste um den Hals, unter dem Vorwand, dass der Junge kein Herz braucht, da Gefühle einen nur verletzen. Es läuft darauf hinaus, dass der Junge seinen Großvater ins Kaminfeuer stößt, den Schlüssel aus der Asche nimmt, die Kiste öffnet und sein Herz in sich einpflanzt. Dann fühlt er auf einmal nur Schmerz, da der Einzige, den er liebte im Feuer starb.
Außerdem ließ ich mich von Cedric Errol ("Der kleine Lord" - Frances Hodgson Burnett) zu Liam inspirieren.
"Der Schlüssel" spielt für mich eine wichtige Rolle in meiner Entwicklung des Schreibens, denn es ist meine erste Kurzgeschichte, die ich als gelungen empfunden habe. Auch wenn ich einiges daran heute anders gemacht hätte (z.B. das Entfernen des Epiloges), will ich sie unverändert lassen als eine Art Erinnerung.
- Der Traumpilger (13.10.2013)
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