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Es freut mich natürlich sehr, wenn meine Werke reichlich gelesen werden und unterhalten oder zum Nachdenken anregen. Natürlich sind auch immer wieder gut gemeinte Kritiken erwünscht!

Sonntag, 13. Oktober 2013

Der Schlüssel

Eine Kurzgeschichte
Kategorie: Tragik 
Herbst, 2011

„Er ist so ein netter Junge!“ - „Höflichkeit in Person!“ - „So unbesorgt und glücklich!“ - „Der Traum von einem Kind!“
Diese und weitere Worte der Bewunderung bekam Liam, ein neunjähriger, blondhaariger und lebenslustiger Junge, fast jeden Tag zu hören. Sein Vater, Schuldirektor und Lehrer für Naturwissenschaften, beglückte das sehr und ließ keine Gelegenheit aus seinen Sohn vorzuführen.
Oft spielte Liam mit seinen Freunden und man hörte ihn nur lachen. Gelangweilt oder gar traurig sah man den Jungen nie. Immer erfreute er jedermann mit seinem Späßen, Witzen und dem süßen Kinderlachen und den funkelnden blauen Augen, aus denen die pure Gutmütigkeit blickte. Denn immer dort wo Hilfe benötigt wurde, war der Junge zur Stelle. Ob er nun mit seelischem Beistand oder mit körperlicher Arbeit half, letztendlich war jeder froh auf seine Hilfe zählen zu können. Falls er mal Unsinn anstellte, hatte er eine Art sich zu entschuldigen, die einem sofort jeden Groll vergessen ließ und ein flüchtiges Lächeln über die Lippen zauberte. Und doch war er nur ein Kind. Die Familie hatte einen außerordentlich schweren Verlust erleiden müssen. Seine Mutter starb früh und man vermutet keinen natürlichen Tod. Allerdings konnte man nie etwas nachweisen. Liam selbst war gerade mal sieben Jahre alt, als seine Mutter starb und bis heute hat er auch keine richtige Erinnerung daran, weshalb man vermutet, dass er es vielleicht verdrängt hatte. Im Haus hingen auch keine Bilder von ihr und der Junge vermied es zu fragen, um den Vater, der sehr unter dem Tod seiner Frau litt, nicht traurig zu machen.

Eines Tages - es war einer der Tage, an denen Liam besonders gut gelaunt war - lief der Junge durch das ganze Haus. Selbstverständlich war er dabei ganz ruhig, wie eine Maus. Er wollte seinen schlafenden Vater nicht wecken, da dieser sich von einer stressigen Arbeitswoche erholen musste. So lief und kroch er im ganzen Haus herum, so tuend, als ob er ein Schatzsucher wäre.
Nachdem er die Treppe heruntergeklettert war, befand er sich in dem großen Hausflur. Vorsichtig hüpfte er von 'Stein zu Stein', um nicht in die glühende Lava zu fallen, die im tiefen Abgrund brodelte. Endlich! Er war auf dem Teppich angekommen, den er sich als ein großes Plateau vorstellte. Der mutige Abenteurer war am Ziel. Irgendwo hier war der großartige Schatz auf seiner selbstgezeichneten Karte versteckt. Sofort fiel sein Blick auf die Skulptur einer griechischen Göttin. Sein Vater liebte solche Skulpturen. Liam liebte seinen Vater. Er brauchte diese Statue. Sein Vater wird sich bestimmt darüber freuen. Aufgeregt rannte er los, doch sein Fuß stieß gegen eine Delle im Teppich, sodass er stürzte. Er wartete. War er zu laut gewesen? Sein Knie schmerzte etwas. 'Ein Abenteurer kennt keinen Schmerz', dachte er sich der tapfere Liam und raffte sich auf. Er erhob sich, rückte seine Kleidung zurecht, sah sich um und erstaunte.
Der Teppich war verschoben und darunter kam eine versteckte Falltür zum Vorschein. Zwar wunderte Liam sich, was diese Tür da suchte, doch tat er so, als gehörte dies zum Abenteuer. Mit stolzgeschwellter Brust ging er zur Falltür und kniete nieder. Sofort entdeckte er die Schlaufe und zog daran. Langsam öffnete er die Klappe und leise legte er sie auf der anderen Seite ab. Mit großen Augen betrachtete er, was unter der Falltür zum Vorschein kam.
Eine kleine Kiste befand sich in einer ebenso kleinen Lücke im Boden. Liam hielt sich die Hände an die Wangen und ließ ein 'Erstaunlich!' verlauten. Das hatte er nicht erwartet. War dies wirklich eine Schatzkiste? Aber was hatte sie bei ihm Zuhause unter einem Teppich zu suchen? Viele weitere Fragen gingen ihm noch durch den Kopf, doch die wichtigste war, was wohl drin sein mag.
Behutsam nahm er die Schachtel heraus, als ob sie leicht zerbrechlich wäre und pustete den Staub von der Oberseite weg. Eine kleine Spinne krabbelte auf Liams Hand. Ihr nichts böse wollend, ließ er sie runter und sie eilte davon. Nun entdeckte er ins Holz eingeritzte Buchstaben. Es sah so aus, als hätte jemand wild mit einem Messer die Striche in das Holz gekratzt.
Plötzlich schreckte der kleine Junge auf. Er konnte ganz genau seinen Namen als erstes Wort identifizieren. Er kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und versuchte konzentriert das zweite Wort zu entziffern. Ein E... Darauf vielleicht ein R? Ja, und gleich danach ein I! Der Buchstabe N erschien direkt zweimal hintereinander. Anschließend wieder eine Kombination aus E und R. Der darauffolgende Bogen war ganz klar ein U. N und G beendeten das Wort.
„Liams Erinnerung“, las er schließlich beeindruckt. Der Junge spürte plötzlich eine eisige Kälte in ihm. Was hatte das zu bedeuten? Es fühlte sich so an, als wäre etwas in dieser Kiste, das ihm Angst machte, aber auf der anderen Seite ihn so anzog, dass er sie öffnen musste.
Seine zittrigen Finger versuchten die Klappe anzuheben, doch die kleine Kiste ließ sich nicht öffnen. Liam erkannte auch sofort warum. Ein Schlüsselloch verweigerte den Jungen das Öffnen.
Eine Weile verharrte sein Blick auf dem Wächter der Truhe, als auf einmal die Kälte in ihm stärker wurde und gleichzeitig unbekannte Wut in ihm auf brodelte. Er nahm die Kiste und schlug sie immer wieder auf den Boden. Gierig nach dem Inhalt, gequält von der Angst, geleitet von der Wut. Trotz der wilden Versuche, die Kiste zu zerstören, blieb sie unbeschadet.
„Liam!“, drang eine wütende Stimme an des Jungen Ohr. Sofort war die Kälte und Wut in Liam verschwunden. Was sollte er nun tun? Er hörte Schritte, die von oben kamen. Sein Vater musste jeden Augenblick hier sein!
Er warf die Kiste in ihr Loch zurück, klappte die kleine Tür zu, zog den Teppich über das Versteck und kontrollierte nochmal alles. Da kam ihm plötzlich ein Gedanke. Was ist, wenn sein Vater fragte, was das für Geräusche waren? Er war ein grauenvoller Lügner. Seine Blicke wanderten im Flur herum und dann tat er etwas, dass er nie von sich erwartet hätte.
Ein lautes Scheppern war Ursache dafür, dass die Schritte des Vaters sich beschleunigten. Sofort war er die Treppe herunter gerannt und fand im großen Flur Liam vor, der sich weinend über die Scherben der antiken Frauenskulptur beugte.
Vor Wut errötet, hob der Vater den Finger und setzte zu schimpfenden Wörtern an. Doch Liam blickte seinen Vater an. In seinen blauen Augen glitzerte die kindliche Unschuld, die den Vater weich werden ließ.
Wenig später war der Vater dabei, die Scherben aufzufegen. Liam, immer noch leise schluchzend, schaute ihm zu. Tiefe Schuld packte den Jungen, wegen seiner absichtlichen Tat. Ehe er aber weitere Schuldgefühle entwickeln konnte, fing sein Blick ein besonderer Gegenstand. Als sein Vater sich vorbeugte, rutschte eine Kette aus dem T-Shirt. An dieser Kette war ein Schlüssel, angeblich ein Andenken an Liams Mutter. Da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.

Sanftes Mondlicht fiel durch die Fenster, als Liam wieder im Flur saß, die Kiste in seinen Händen. Er war die ganze Nacht wach gewesen, stand nicht auf, ehe sein Vater im Tiefschlaf war. Langsam war er ins Schlafzimmer geschlichen und hatte es mit einer Menge Glück und Geschick geschafft den Schlüssel jetzt in seinen Händen zu halten.
Nun saß er wieder am gleichen Ort, wo er gestern das Versteck gefunden hatte. Sein Blick verharrte auf dem Schlüssel. Er symbolisierte so vieles für ihn. Einmal ein starkes Schuldgefühl, da er ihn gestohlen hatte, obwohl dieser dem Vater so viel bedeutete. Er wird ihn ja zurückgeben, doch fühlt es sich so falsch an. So etwas hatte er noch nie getan, aber es musste sein! Denn es war der einzige Weg zum Ziel; der einzige, der den Wächter der Truhe besiegen kann. Was wird er ihm letztendlich überbringen? Freude und Glück, Traurigkeit und Schmerz? Wird der Schlüssel ein Freund sein oder ist der Wächter der Truhe sein Beschützer vor Unheil?
Liam, voller Anspannung, steckte den Schlüssel ins Loch und drehte ihn nach rechts. Klack! Die Kiste war entriegelt.
Langsam hob er den Deckel an. Das Holz war glatt und kalt. Die Truhe war offen. Liam blickte nach vorn. Doch dann senkte er vorsichtig seinen Blick. Ein goldenes Medaillon! Der Junge nahm es in die Hand und plötzlich stieg in ihm wieder die Kälte auf. Zögernd wartete er, doch dann öffnete er die Klappe des Medaillons. Da war ein Foto! Das Foto einer schönen Frau. Ihre blonden Haare und ihre blauen Augen kamen Liam so bekannt vor. Und plötzlich zuckte eine Erinnerung durch seinen Kopf. Das war seine Mutter!
Glück und Wärme erfüllte ihn, doch dann passierte etwas Merkwürdiges. Bilder erschienen vor seinen Augen. Er erinnerte sich an Qualen und Trauer. Was war das? Er wollte schreien, es ging nicht. Er sah seine Mutter, streitend mit seinem Vater. Worüber redeten sie? Nein, er tut ihr weh! „Hör auf!“, wollte Liam brüllen, aber sein Hals war zu trocken, ließ nur ein Krächzen zu. Jetzt bewegt sich seine Mutter nicht mehr und eine letzte Träne rann über ihr Gesicht.
Die Bilder verblassten. Liam erinnerte sich. Sein Vater nahm seiner Mutter das Leben. Er war dabei, als er jünger war. Entschlossen stand er auf, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und rannte in sein Zimmer. Später hatte er einen Rucksack gepackt. Er stand im Flur und blickte auf die geöffnete Kiste.
„Tschüss... Papa!“, sagte er mit krächzender Stimme, verließ das Haus und floh in die Nacht.

10 Jahre später...
Liam ist nun 19Jahre alt und eifriger Student. Sein Studienfach hat er sich sorgfältig ausgesucht, strebte es schon ziemlich früh an. Seine Pflegeeltern taten alles, damit sie ihm dieses Studium finanzieren konnten.
Liam war gerade auf dem Weg zur Universität. Gedankenverloren griff er in seine Hosentasche und holte einen kleinen Schlüssel heraus.
„Heute, vor 10Jahren“, murmelte er leise. Er war damals, als ihn die Vision ergriff, auf die Straße geflohen. Ehe er in der Nacht erfrieren konnte, fand ihn ein junges Ehepaar, das ihn fortan aufnahm. Es war ein schwieriger Prozess, bis sie das Sorgerecht für Liam erhalten konnten. Doch sie schafften es letztendlich und Liam wuchs gut bei ihnen auf. Die Erfahrung hinterließ zwar Spuren bei ihm, doch veränderte seinen Charakter nicht schwerwiegend. Er wurde nur nachdenklicher und ruhiger, und innerlich auch tatsächlich etwas trauriger.
Den Schlüssel trug er jeden Tag bei sich. Er konfrontierte ihn zwar mit seiner Vergangenheit, aber war er auch wichtig für ihn, da sich an diesem Tag die Wahrheit offenbarte. Das Medaillon, aber, ließ er zurück. Sein Vater sollte es behalten, um zu wissen, welch grausamen Fehler er beging. Er sollte es tief bereuen.
Liam legte den Schlüssel in seine Brusttasche und betrat nun die Universität. Zusammen mit zwei Freunden ging er zur nächsten Vorlesung, die sich allgemein mit Gewaltprävention befasste.
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Nachwort:

Diese kleine Kurzgeschichte habe ich schon vor einer ganzen Weile verfasst. Ursprünglich ist sie für einen Englischwettbewerb gewesen, bei dem man eine Geschichte mit dem Thema "Key" (Englisch für Schlüssel) schreiben sollte. 
Inspiriert wurde ich von der Comicgeschichte "Der Junge mit dem Herz in der Kiste" ("The boy with the heart in a box") aus Roman Dirge's "Lenore: Noogies", bei dem es sich um einen Jungen handelt, dessen Herz sich in einer verschlossenen Kiste befindet. [Achtung: Spoiler!] Sein Großvater trägt den Schlüssel zu der Kiste um den Hals, unter dem Vorwand, dass der Junge kein Herz braucht, da Gefühle einen nur verletzen. Es läuft darauf hinaus, dass der Junge seinen Großvater ins Kaminfeuer stößt, den Schlüssel aus der Asche nimmt, die Kiste öffnet und sein Herz in sich einpflanzt. Dann fühlt er auf einmal nur Schmerz, da der Einzige, den er liebte im Feuer starb.
Außerdem ließ ich mich von Cedric Errol ("Der kleine Lord" - Frances Hodgson Burnett) zu Liam inspirieren.
"Der Schlüssel" spielt für mich eine wichtige Rolle in meiner Entwicklung des Schreibens, denn es ist meine erste Kurzgeschichte, die ich als gelungen empfunden habe. Auch wenn ich einiges daran heute anders gemacht hätte (z.B. das Entfernen des Epiloges), will ich sie unverändert lassen als eine Art Erinnerung.
- Der Traumpilger (13.10.2013)

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